Frage von cantsin:Nach langer Zeit ein Kinofilm, der mich wirklich beeindruckt - eigentlich sogar: umgehauen - hat:
https://www.youtube.com/watch?v=PuiWDn976Ek
Ein vierstündiger Rollercoaster und Trip ins Gehirn und die angstgetriebene Persönlichkeit des Titelprotagonisten, dem als eine Art Hiob Schlimmstes widerfährt und der sein Leben lang in einer mißbräuchlichen Familienbeziehung feststeckt. Man weiß bei diesem surrealen und auch grotesken Film nicht, was Psychose, Phantastik, Traum und Wirklichkeit ist; es gibt biblische Motive, Motive aus der griechischen Mythologie, der Psychoanalyse, Anleihen bei Horrorgenrefilmen und - meiner Meinung nach - bei Kafka (und zwar dem "Naturtheater von Oklahoma" im Roman "Amerika"/"Der Verschollene").
Das ganze ist bis ins kleinste Detail hervorragend inszeniert, gespielt (von bis auf Joaquin Phoenix eher unprominenten, aber exzellenten Schauspielern) und mit umwerfenden Bildern (sowohl hinsichtlich des production design, als auch der Kameraarbeit).
Ich war schon ein riesiger Fan von Ari Asters letztem Film "Midsommar", aber "Beau is Afraid" spielt noch in einer höheren Liga. Als Vergleich fiele mir da nur Paul Thomas Anderson ein.
Den Film sah ich mit fünf anderen Zuschauern in einem gähnend leeren Großkino zusammen mit einer mit befreundeten Künstlerin und Experimentalfilmerin (die mich seinerzeit auf "Midsommar" aufmerksam gemacht hat).
Nach dem Film waren wir uns sofort einig, dass das
ein Film ist, den man sacken lassen muss und der einen noch lange mental beschäftigt, und bei dem es sich lohnt, mehr über die Hintergründe der Produktion zu lesen;
den man vielleicht ein zweites und drittes Mal sehen sollte;
der wahrscheinlich ein Kinokassen-Flop wird, aber in 20 Jahren als Kultfilm oder sogar Filmklassiker gelten wird.
(Ach ja, hab mir testweise auch den deutschen Trailer angesehen - das sollte man sich nicht antun, sondern den Film im Original sehen. Dessen Sounddesign und die Musikauswahl ist übrigens auch umwerfend. Und im Kino, in dem wir waren, bewies der Vorführer richtig guten Geschmack, indem er nach Ablauf der End-Credits Johnny Cashs Country-and-Western-Cover von Depeche Modes "Personal Jesus" spielte.)
Antwort von pillepalle:
Danke für den Tip. Vier Stunden klingt allerdings so, als ob man ordentlich Sitzfleisch bräuchte :) Und Goodbye Stranger im Trailer? In wieviel Filmen war die Musik bereits? Scheint aber interessant zu sein.
VG
PS: :)
https://www.criterion.com/shop/collecti ... oset-picks
Antwort von cantsin:
pillepalle hat geschrieben:
https://www.criterion.com/shop/collecti ... oset-picks
Wow, da sieht man mal wieder, dass solche Hochkaräter-Filmemacher eben nicht aus dem Nichts kommen, sondern ihr Gehirn voll mit Filmgeschichte haben und, wie Scorsese, Film-Kenner und -Enzyklopädisten sind. Dass er die Vorführung eines Guy Maddin-Stummfilms mit der Live-Stimme von Udo Kier seinen persönlichen Kinohöhepunkt nennt, macht ihn noch besonders sympathisch.
(Und da er hier Kafka nennt, gehe ich jetzt mal sicher davon aus, dass die Freiluft-Theater-Szene in "Beau Is Afraid" tatsächlich eine Verbeugung ans "Naturtheater von Oklahoma" ist. Eine weitere Parallele des Romans und des Films: Der Protagonist wird von seiner Familie verstoßen und irrt durch ein surreal-dystopisches Amerika.)
Antwort von pillepalle:
Sprachverständlichkeit, das ewig junge Thema :)
VG
Antwort von cantsin:
pillepalle hat geschrieben:
Sprachverständlichkeit, das ewig junge Thema :)
Naja, dieser Bildungsbürgerdarsteller (in dem YouTube-Video) vor seinem Kindler-Literaturlexikon macht daraus - mit seiner Artikulation, die offensichtlich einen rheinischen Zungenschlag überkompensiert - ja seinerseits fast eine Farce.
Es stimmt, das die von Joaquin Phoenix gespielte Figur nuschelt, aber das passt perfekt zu ihrem Psychogramm (nämlich einer unterdrückten Persönlichkeit, die nie gelernt hat, ihre eigenen Wünsche zu artikulieren).
Übrigens konnte ich trotzdem alle seiner Dialoge verstehen - das ist schon Nuscheln als Kunstmittel (Stelle im Trailer getimet):
https://youtu.be/PuiWDn976Ek?t=39